ID INSIGHT

Die eigenen Daten besser kennenlernen

Die softwaregestützte Ableitung von medizinischen Klassifikationen wie ICD oder OPS aus einer strukturierten medizinischen Dokumentation ist kein Hexenwerk. Spannender wird es, wenn Freitexte mit Hilfe von Terminologien wie SNOMED CT nach Symptomen durchkämmt werden. Denn damit werden komplexere Analysen möglich, die sowohl zu mehr Effizienz als auch zur Verbesserung der Behandlungsqualität beitragen können. Das Unternehmen ID, Spezialist für medizinische Dokumentation und Codierung, bringt zur DMEA ein neues Produkt mit, das genau das leistet. Dr. André Sander, Leiter technische Entwicklung bei ID, verrät erste Details.

Die Bedeutung von Real-World-Daten-Analysen im Gesundheitswesen nimmt zu, die Corona-Pandemie hat diesen Trend nochmal akzentuiert. Welche Art von Information kann aus der klinischen Dokumentation unkompliziert digital ausgelesen werden, und wo wird es schwieriger?

Was sich relativ leicht aus der Dokumentation herausziehen lässt, sind die gesetzlich vorgegebenen, abrechnungsrelevanten Klassifikationen, also ICD-10 für die Diagnosen und OPS für die Operationen und Prozeduren. Das gibt es seit Langem, und als ID bieten wir hier seit mehr als zwei Jahrzehnten digitale Tools an. Aber das ist natürlich nicht das Einzige, was interessant ist. Laborwerte und Medikamente sind für viele, gerade auch medizinische Fragestellungen wichtig. Da wird immer noch viel in Freitextfeldern dokumentiert. Noch stärker gilt das für Symptome. Hier gibt es bisher fast gar keine strukturierten Daten.

Welche prinzipiellen Möglichkeiten gibt es, diese Daten, speziell auch die Symptome, standardisiert abzubilden und damit verfügbar zu machen?

Prinzipiell wäre natürlich eine konsequente Strukturierung der Primärdokumentation ein möglicher Weg, aber ich glaube da nicht dran, oder nur punktuell. Gerade wenn wir von den Symptomen reden: Jeder Mensch ist anders und wird durch Arzt oder Ärztin individuell beschrieben. Das lässt sich strukturiert schwer umsetzen. Das Extrembeispiel für die Grenzen der strukturierten Dokumentation ist die Psychiatrie, aber das betrifft auch andere Fächer. Die Alternative sind Software-Lösungen, die mit Klassifikationen und Terminologien hinterlegt sind und die Sprache verstehen – also Computerlinguistik, angewandt auf Freitextfelder. Dafür ist die Zeit jetzt zunehmend reif. Ein wichtiger Grund ist, dass wir mit dem syntaktischen HL7-Standard FHIR quasi eine Art Rahmen bekommen haben, der uns vorgibt, wie die Daten, die wir extrahieren, am Ende aufbereitet werden sollen. Das ist ein großer Vorteil gegenüber noch vor wenigen Jahren.

Bei der DMEA stellen Sie ein Konzept für eine standardisierte Abbildung klinischer Symptome auf Basis von Freitext vor – und präsentieren dazu auch ein Produkt. Wie genau funktioniert die Freitextanalytik von Symptomen bei Ihnen, und welche Rolle spielen dabei Terminologien wie SNOMED CT?

Wir zeigen bei der DMEA, wie wir das ganze Konvolut einer Patientenakte analysieren und die Inhalte zur weiteren Auswertung bereitstellen. Dabei wollen wir nicht einfach aus Freitext zweckgebunden Klassifikationen ableiten, sondern freie Auswertungen ermöglichen. Deswegen dürfen wir nicht nur abrechnungsrelevante Klassifikationen nutzen, sondern müssen mit leistungsfähigen Terminologien und semantischen Netzen arbeiten. Wir nutzen zum Beispiel SNOMED CT, wo schon möglich auf Deutsch, die Wingert-Nomenklatur, LOINC für den Laborbereich und Orphacode für die seltenen Erkrankungen. Die Symptome bilden wir dabei direkt auf die Terminologien ab, und über die Verknüpfung mit einer Ontologie lässt sich damit dann weiterarbeiten: So können Nutzer:innen auf nicht ICD-codierte Diagnosen schließen oder auch die Behandlungsqualität evaluieren. Es lassen sich Hypothesen über Ätiologien generieren, etwa wenn Schwindel mit Fieber oder mit bestimmten Medikamenten korreliert ist. Die Verbindung von Freitextanalytik mit Terminologien und Ontologien erzeugt ein flexibles Analyseinstrument, das sich auf sehr viele Fragestellungen anwenden lässt.

Vielleicht können wir hier noch etwas präziser werden: Ihre Kunden sind Krankenhäuser. Wo genau können die von einem solchen Analyse-Tool profitieren?

Was auf der Hand liegt, ist die Forschung, auch wenn wir uns darauf nicht primär ausrichten. Dadurch, dass die Patientendaten auf beliebige Terminologien abgebildet werden können, lassen sich wunderbar Zusammenhänge finden, die dann weiter evaluiert werden können. Relevanter für viele unserer Kunden dürfte die Auswertung von Behandlungsqualität sein, denken Sie an die Ursachenforschung bei ungewöhnlich langer Liegedauer. Effizienzsteigerung ist auch ein wichtiges Stichwort. Mit Hilfe des Tools lassen sich unterschiedliche Patientenkohorten vergleichen, im Sinne eines patientenorientierten Benchmarkings. Das Controlling kann ICD 10-codierte Daten mit anderen Auswertungslogiken analysieren und so zum Beispiel neue Bereiche erschließen. Auswertungen im Zusammenhang mit Anfragen des Medizinischen Dienstes lassen sich unterstützen. Und dann sind da noch die gesetzlich geforderten Interoperabilitätsfunktionen, etwa die Medizinischen Informationsobjekte (MIO). Hier existieren zunehmend standardisierte FHIR-Strukturen, über die interoperable Inhalte künftig kommuniziert werden. Mit Hilfe unserer Tools können Einrichtungen diese FHIR-Strukturen aus Routinedaten heraus befüllen, was viel Arbeit sparen kann.

Ist das noch ein Konzept, oder zeigen Sie für all diese Funktionen bei der DMEA schon ein Produkt?

Das ist ein eigenständiges Produkt, das in Partnerschaft zwischen ID und DMI entwickelt wurde und das wir bei der DMEA in der ersten Version vorstellen werden. Das Produkt heißt DaWiMed, von „Daten, Wissen, Medizin“. Kernkomponente ist unser ID Terminologieserver, den wir im Rahmen der Medizininformatik-Initiative (MI-I) weiterentwickelt und wissenschaftlich validiert haben. DaWiMed wird primär als Software-as-a-Service angeboten und kann mit entsprechend wenig Aufwand implementiert werden. Der Ablauf ist so, dass alle gewünschten elektronischen und digitalisierten Dokumente in ein Dateiverzeichnis gelegt werden, das dann von uns analysiert wird und anschließend für beliebige Auswertungen zur Verfügung steht. Dabei erfolgt die Selektion der zu analysierenden Dokumente auf Basis der Klinischen Dokumentenklassen-Liste (KDL), die ein fester Bestandteil der DMI-Lösungen ist. Das ist auch das Besondere an der Lösung: Das Wissen um die zu analysierenden Dokumententypen hat erheblichen Einfluss auf die Ergebnisqualität der Analysen.

DaWiMed wäre also quasi eine Art „Terminologieserver plus“, eine Anwendung, die einen Terminologieserver um Freitextanalytik ergänzt und die Freitexte so für medizinische Business Intelligence zugänglich macht?

Das kann man so sagen, ja. Wichtig ist, dass der Terminologieserver auch als eigenes Produkt erhältlich ist. Wenn es nur darum geht, bestimmte Klassifikationen und Dokumentationsstandards in andere Formate zu übersetzen, dann reicht der Terminologieserver alleine, da brauche ich keine Freitextfunktionen für. Nehmen Sie seltene Erkrankungen, Labordokumentation oder auch die Krebsregister: Da gibt es immer mehr Dokumentationspflichten mit teils eigenen Nomenklaturen, die verpflichtend sind oder es demnächst werden. Die ganzen Codes müssen natürlich irgendwo herkommen. Ein Terminologieserver kann diesen Codierungs- und Umcodierungs-Prozess nicht vollständig, aber ein Stück weit automatisieren.

Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz